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Red Bull Music Academy Stage

Kaum ein Wort wird im Musikjournalismus so überstrapaziert wie das der Legende. Jeden Monat erscheint ein neues Buch, das uns eine bislang nicht dokumentierte lokale Clubszene vorstellt – Interviews mit vergessenen Lokalmatadoren und vergilbten Fotos inklusive. Reissue-Labels sprießen aus dem Boden und messen sich darin, noch exklusivere Tracks einer ach so sträflich übersehenen Legende zu bergen und auf limitiertem Vinyl wieder in Umlauf zu bringen.

Im Fall von Juan Atkins scheint der das Prädikat „Legende“ allerdings mehr als gerechtfertigt: Der Detroiter produzierte den ersten Techno-Track. Er gab dem Genre den Namen. Er gründete das erste Techno-Label – und ermöglichte die Karrieren von Kollegen wie Carl Craig und Eddie Fowlkes.

Atkins wuchs in Bellville auf, einem Vorort von Detroit. Seine späteren Mitstreiter Derrick May und Kevin Saunderson traf er dort in der Schule. Angefixt vom lokalen Radio-DJ The Electrifying Mojo, der in seiner Sendung New Wave mit Funk kreuzte, und den Synthesizer-Sounds früher Parliament-Platten, besorgte er sich einen Korg MS-10 und fing an unter dem Pseudonym Cybotron eigene Tracks zu basteln. Der Projektname, wie auch der seines Plattenlabels Metroplex, sind Anzeichen seiner großen Science-Fiction-Obsession. In einem Interview meinte Atkins einmal, er habe im Detroit-Kontext die Roboter in Fords Autowerken immer interessanter gefunden als die Musik von Motown.

1985 veröffentlichte er unter dem Namen Model 500 die Single „No UFOs“, die als erster Techno-Release in die Annalen der Musikgeschichte eingehen sollte. Als der britische DJ Neil Rushton 1988 dann eine Compilation zusammenstellte, um den neuen Sound aus Detroit nach Europa zu bringen, suchte dieser nach einem griffigen Namen für die Platte. Und angeblich war es Atkins, der, nach einem kräftigen Zug am Joint, tonlos die Worte herausdrückt haben soll: „Call ... It... Tech... No.“ Die Platte wurde dann tatsächlich „Techno! The New Dance Sound of Detroit“ getauft, der Rest ist Geschichte.

Während May und Saunderson, die anderen beiden Vertreter des Techno-Pioniertrios „Bellville Three“, den Ball schon seit vielen Jahren recht flach halten, was neue Produktionen angeht, bastelt Atkins seit Jahren konstant an seiner sonischen Zukunftsvision weiter. Seine letzte Großtat: das gemeinsame Album mit Moritz von Oswald unter dem Projekttitel Borderland von 2016. Eine spartanische Platte, auf der die beiden Eckpfeiler wie Jazz, Dub und Techno zu einem futuristischen Gesamtkunstwerk amalgamierten.

Legendenstatus, was die heimische Techno-Szene angeht, darf auch Patrick Pulsinger für sich beanspruchen. Fast 25 Jahre ist es her, dass er sich mit Jugendfreunden wie Gerhard Potutznik und Erdem Tunakan regelmäßig im Kinderzimmer von letzterem verschanzte. Um mit billigen Synthesizern und Drum-Maschinen – noch ganz ohne Computer – Tracks aufzunehmen. Wenige Jahre später galt ihre DIY-Plattenfirma Cheap Records als eines der meist angesehensten und gleichzeitig unberechenbarsten Labels der noch jungen Techno-Szene. Nach seinem Ausstieg bei Cheap machte Pulsinger sich als Studioproduzent einen Namen, 2016 veröffentlichte er nach längerer Abstinenz gemeinsam mit dem bayrischen Musiker Sam Irl wieder ein clubtaugliches Album namens „Mud“. Für ihren Auftritt auf der Red Bull Music Academy Stage transformieren die zwei die erhabenen Dub-Effekte, die sanften Detroit-Chords und treibenden Bässe der Platte in ein wuchtiges Live-Set, das stilistisch wunderbar zu Atkins DJ-Set im Anschluss passen dürfte.

Das erste Stück des Duos Pulsinger & Irl erschien übrigens vor drei Jahren – auf der 20-Jahre-Compilation von Pomelo Records, dessen Betreiber Daniel Lodig – ebenfalls ein Wiener Techno-Urgestein – an diesem Abend auch an den Decks stehen wird. Genauso wie die Grazerin Clara Moto, die ihre feingliedrigen House-Tracks seit 2007 beim französischen Prestige-Label Infiné veröffentlicht. Im gleichen Jahr starteten auf der anderen Seite des Ärmelkanals auch Paranoid London. Schon der Titel der Einstands-EP stellte die künftige Marschrichtung des Labels/Duos klar: „We Make Acid.“ Rau, wuchtig, und voll in die Fresse. Gerade in Zeiten überproduzierter und marktschreierischer Club-Tracks ist der Ansatz der Londoner wohltuend. Analoges Equipment, Vinyl only, keine Promo-Anbiederungen. Stattdessen brauen sie – beim Elevate Festival sogar mit Live-Equipment – Acid-House getreu dem Chicagoer Reinheitsgebot. Und das wiederum, so viel ist klar, war schon immer der Stoff, aus dem Legenden sind.