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Vom Schweigen reden: Über das Verbergen

Whistleblower sind beim heurigen Elevate-Festival stark vertreten. Der promovierte Philosoph Jan Skudlarek geht deshalb in seiner Essayminiatur dem Geheimnis im postfaktischen Zeitalter nach.

Text: Jan Skudlarek, Foto: Dirk Skiba, Übersetzer: Phil Iroh
Erscheint auch in gedruckter Form im neuen Elevate Magazin.


Worum es hier geht, das wirst du gleich erfahren. Noch nicht jetzt. Aber gleich. Versprochen. Behandele diesen Text also bis dahin bitte so diskret wie möglich. Nicht, dass er in die falschen Hände fällt. Das passiert schneller, als du denkst. Aber was soll das heißen? Wann sind Hände „die falschen Hände“? Gute Frage. Schlaue Frage. Aber eigentlich geht es hier weniger um Hände. Es geht um Köpfe. Um Köpfe, die Dinge wissen.


Mittlerweile kannst du dich fast als eingeweiht betrachten. Denn wir stecken alle unter einer Decke. Du und ich. Denn wir wissen beide, wie es sich anfühlt. Nicht wahr? Wir haben es nämlich, das gewisse Etwas.
Das gewisse was? Langsam reicht's. Raus mit der Sprache. Wovon ist hier, verdammt nochmal, die Rede?
Die Rede ist von Geheimnissen.


Endlich sind wir beim Thema. Aber Moment. Ist das nicht ein Widerspruch? Wie kann von Geheimnissen die Rede sein? Bekanntlich sind Geheimnisse ja das, worüber wir nicht reden. Nicht ganz falsch, auch nicht ganz richtig. Immer der Reihe nach.
Was ist heutzutage noch geheim in einer Gesellschaft, die alles wissen will? In einer Gesellschaft, die alles teilt? Die Antwort lautet: Mehr als man denkt. Auch in Zeiten von Facebook und Co – oder, eher, gerade in Zeiten von Facebook und Co. Jeden Tag stehen wir neu vor der Frage, was wir teilen. Und was wir behalten. Für uns. Ganz alleine. Oder fast nur für uns. Für den kleinen Kreis. Es geht um die Kunst des Schweigens.


Provisorisch können wir also sagen: Das Geheime ist das Nicht-Geteilte.
Die Möglichkeit, uns ständig mitzuteilen, zwingt uns zu überdenken, was wir nicht (mit)teilen. Die Grenzziehung zwischen privat und öffentlich ist so gesehen aktueller denn je. Das Nicht-Gesagte hat nach wie vor seine ganz eigene Magie.


Geheimnisse sind auch im 21. Jahrhundert etwas Besonderes. Also ganz wörtlich. Was wir voreinander geheim halten, ist nicht irgendein Wissen. Es ist besonderes Wissen. Das Besondere ist wiederum zu unterscheiden vom Alltäglichen. Ob wir den Kaffee mit Milch trinken oder nicht – das hat nicht das Zeug zum Geheimnis. Der Stoff, aus dem das Verborgene ist, ist selten banal.
Philosophisch gesehen stehen wir übrigens vor einem Henne-Ei-Problem. Was kommt zuerst? Das Besondere oder das Geheimnis?
Hältst du etwas geheim, weil es etwas Besonderes ist?
Oder ist etwas besonders, weil du es geheim hältst?
Fest steht, dass wir Kleinigkeiten, die uns nichts bedeuten, nicht verbergen. Weder verbergen wollen noch verbergen müssen. Über das Verbergen sprechen heißt über das Nichtsprechen sprechen.
Wem das zu theoretisch war: Jetzt wird es handfest. Was wir verheimlichen und was nicht, hat meist praktische Gründe.


Das hat mit unserer Beziehung zum Wissen zu tun. Denn etwas wissen heißt nicht nur etwas erfahren – es heißt erfahren, um zu handeln. Wenn ich weiß, dass du zu viel trinkst, steige ich vielleicht nicht zu dir ins Auto. Wenn ich weiß, dass du abschreibst, leihe ich dir nicht meine Masterarbeit. Wenn ich erfahre, dass du alles weitererzählst, öffne ich dir nicht mein Herz.
Geheimnisse sind also nicht nur besonderes Wissen. Sie sind folgenschweres Wissen. Was wir wissen und was nicht, das wirkt sich oft auf unsere Handlungen aus. Mein Wissen, ob du deinen Kaffee mit Milch trinkst oder ohne, wirkt sich darauf aus, ob ich dir Milch anbiete. Aber es ist eben nicht besonders (außer du hast eine Milchallergie, dann schon).


Wir nähern uns also einer Definition. Es zeigen sich drei Merkmale.


Das Geheimnis ist


    1)    nicht-öffentliches
    2)    besonderes Wissen,
    3)    das Folgen hat.


Geheimnisse sind aus handlungstheoretischer Sicht interessant, weil wir in der Regel unser Verhalten in der Welt ändern, sofern wir sie erfahren. Das ist bei Wissen nicht immer so. Wenn ich dir sage, dass Gold auf Latein aurum heißt, ist das wohl nicht sonderlich handlungsleitend; (außer in einer Lateinklausur). Wenn ich dir aber gestehe, dass ich insgeheim ein Drogenproblem habe, schon. Dieses Wissen verändert etwas zwischen uns auf der Handlungsebene (zum Beispiel, wie und mit wem wir feiern gehen).  


Weil wichtiges Wissen Konsequenzen hat, ist es (uns) nicht egal, wer es erfährt. Wir haben ein zwiespältiges Verhältnis zu denen, die nicht dichthalten können. Je nachdem, welche Konsequenzen das mitgeteilte Geheimnis für uns hat. Edward Snowden zum Beispiel ist für die einen ein Held. Für die anderen ein Verräter. Wer denkt, dass Snowden durch seine Veröffentlichungen irgendwie sein Land gefährdet hat, hält ihn für einen Verräter. Es geht darum, dass negative Handlungen befürchtet werden. Die andere Gruppe knüpft positive Hoffnungen an die Arbeit von Snowden und anderen Whistleblowern. Dass sie „nicht dichthalten“, ist ganz in ihrem Sinne – weil sie hoffen, dass positive Handlungen aus diesen Veröffentlichungen folgen (zum Beispiel, dass Geheimdienste sich weniger Unmoralisches erlauben).
So gesehen hat das Geheimnis heute Hochkonjunktur. Wie die alten Griechen schon wussten: Alles fließt. Heute fließen vor allem Daten und Informationen. Die Grenze zwischen „geteilt“ und „nicht geteilt“ verschiebt sich andauernd. Und dabei wird er wichtiger denn je, der Grenzverkehr zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Teilweise, weil wir ihn uns so wünschen (Facebook und Co.). Teilweise gegen unseren Willen – gehackte PCs, Whistleblower, verlorene Handys. Immer geht es um die Konsequenzen. Um die falschen Hände. Um das, was folgt.


Ihr wollt mit dem Autor über seinen Text sprechen? Kontaktiert @janskudlarek auf Twitter.