Keine Frage des Vertrauens: Frieden für Israel/Palästina
Wie kann es Frieden für Israel und Palästina geben? Selten schien diese Frage hoffnungsloser als in der aktuellen Zeit. Viele Menschen, die sich mit dem Konflikt nicht besonders gut auskennen, führen die scheinbare Unlösbarkeit auf den "Mangel an Vertrauen" zwischen den beiden Seiten zurück: Wenn nur "Vertrauen" gebildet wäre, beide Seiten einander als Menschen kennengelernt hätten, könnten beide Seiten in Frieden miteinander leben.
Tatsächlich ist diese naive Sichtweise näher an der Wahrheit als die oft zu findenden einseitigen Parteinahmen, nach denen die Schuld für den Konflikt nur auf einer Seite liege, während die andere sich bloß "verteidige". Denn das Problem ist in der Tat, insbesondere in der aktuellen Situation, tendenziell symmetrisch: Weite Teile beider Gesellschaften können sich ein Leben in Frieden mit der anderen Seite nicht vorstellen. Es mangelt also doch an Vertrauen.
In Israel dominiert das Gefühl, keinen Partner für einen Frieden zu haben: Die politischen Kräfte auf der palästinensischen Seite seien entweder praktisch oder zumindest rhetorisch darin geeint, den jüdischen Staat Israel abzulehnen und ihn bis aufs Letzte zu bekämpfen. Auch auf der palästinensischen Seite ist die Überzeugung verbreitet, Israel wolle keinen Frieden. Seit der illegalen Gründung des jüdischen Staates herrsche dort ein Konsens, auf Kosten der Palästinenser:innen zu expandieren. Auf beiden Seiten führen diese Überzeugungen – die sich auf der emotionalen Seite oft als übersteigerte Wachsamkeit vor den Plänen der anderen Seite ausdrücken – dazu, dass gleichberechtigtes Zusammenleben mit der anderen Seite ausgeschlossen wird.
„Alle drei Ansätze – Gerechtigkeit, Trennung, Dialog – haben also das Problem, dass sie nicht erfolgreich mit dem Thema der Ideologie umgehen. Diese ist nämlich der hauptsächliche Treibstoff des Konflikts.“
Dazu kommen die schrecklichen Erfahrungen der letzten 105 Jahre und insbesondere des aktuellen Krieges – der Zerstörung Gazas und zunehmend des Westjordanlandes einerseits, des Massakers vom 7. Oktober andererseits. Wie aus der Psychologie bekannt, können die allermeisten Menschen in Situationen, in denen sie sich selbst bedroht sehen, mit der anderen Seite keine Empathie mehr aufbringen. Die ist nämlich begrenzt und schlichtweg nicht mehr verfügbar. Gegen dieses emotionale Misstrauen kann man in der derzeitigen Situation wenig tun; beide Seiten glauben, die andere Seite wolle sie töten oder vertreiben. Und beide können sich dabei auch auf handfeste Belege stützen.
Wie kann man dieses Nullsummenspiel durchbrechen? Dafür gibt es mehrere Ansätze. Den der Gerechtigkeit, den des Dialogs, den der Trennung. Der Ansatz der "Gerechtigkeit" geht davon aus, durch die Rückgängig-Machung oder Heilung historischen Unrechts würde der Hass verschwinden. Die Idee der "Einstaatenlösung" basiert zum großen Teil auf dieser Vorstellung. Tatsächlich wird jedoch im Gespräch mit Menschen auf beiden Seiten klar, dass die Vorstellungen von "Gerechtigkeit" einander oft diametral entgegengesetzt sind. Viele Israelis und Israelinnen sehen aktuell die Vertreibung der Bevölkerung von Gaza, also eine ethnische Säuberung, als “gerechte Strafe” für den 7. Oktober an und israelische Souveränität "From the River to the Sea" als "gerechte" Anerkennung jüdischer Indigenität in Eretz Israel nach 2000 Jahren Verfolgung. Palästinenser:innen dagegen träumen oft von einer individualisierten Abrechnung vertriebener Palästinenser:innen und ihrer Nachfahren mit Israel und den Israelis und Israelinnen und von einer völligen Zerstückelung der israelischen Gesellschaft als Bedingung für Frieden. Oder, für die radikaleren Kräfte, von der fast restlosen Vertreibung der jüdischen Bevölkerung. Es ist aber klar, dass diese Vorstellungen von "Gerechtigkeit" keinen Frieden bringen werden, höchstens Grabesstille.
Der zweite Ansatz – der auch den weitgehenden Konsens der internationalen Staatengemeinschaft ausmacht – ist die Trennung. Also die Zweistaatenlösung. Wenn beide Seiten räumlich voneinander getrennt seien, wenn Sicherheit vor Bedrohung oder Schikane herrsche, könnten die Menschen und ihre Wahrnehmungen sich normalisieren. Friedliches Zusammenleben bedeute daher zunächst einmal die Entflechtung – beide Seiten sind voreinander sicher –, um dann später die Basis für Zusammenleben zu schaffen: Die beiden Seiten leben miteinander. Dieses Konzept ist jedoch aus vielen Gründen gescheitert. Ein Teil davon geht auf äußere Einmischungen oder Unzulänglichkeiten auf der politischen Ebene zurück. Das wären zum Beispiel die erbitterten Versuche der islamischen Republik Iran, eine Friedenslösung zu verhindern. Oder die gescheiterte Verhandlungsführung der USA in den Camp-David-Verhandlungen. Der wesentlichere Grund jedoch ist, dass extremistische Akteur:innen auf beiden Seiten immer wieder die Idee der Zweistaatenlösung hintertrieben haben – und zwar aus ideologischen Gründen. Das sind zum einen die genannten Konzepte von "Gerechtigkeit", die Fairness mit dem Sieg über die andere Seite gleichsetzen. Zum anderen sind es metaphysische Selbst- und Feindbilder: Die Trennung des Landes sei ein Verrat an der islamischen Pflicht, an Gottes Anweisung zur Errichtung jüdischer Herrschaft in Eretz Israel, ein Verrat am Projekt der "arabischen Sache", Appeasement gegenüber "dem Islam" oder der Verrat am Kampf gegen den globalen Imperialismus.
Der dritte Ansatz zur Schaffung von Vertrauen ist der therapeutische – Frieden durch Dialog. Seit Jahrzehnten schon versuchen Psycholog:innen, NGOs und Friedensaktivist:innen auf beiden Seiten, Empathie und Verständnis durch Begegnung, Diskussion und die Schaffung gemeinsamer Orte zu schaffen. Diese Arbeit ist so wichtig wie die Luft zum Atmen – der Verfasser selbst engagiert sich darin und glaubt fest an ihre Wichtigkeit. Zum Frieden jedoch hat sie bisher nicht geführt. Zum einen ist ein gleichberechtigter Dialog unter den völlig ungleichen politischen Verhältnissen nur schwer, was insbesondere auf palästinensischer Seite der Steigerung von Empathie durch Dialog eine von den Fakten diktierte Grenze setzt. Denn der Dialog ersetzt keine politische Lösung. Zum anderen ist der Dialog – auch wenn er tatsächlich die Empathie erhöhen kann – keine Lösung für das bereits bei den beiden anderen Ansätzen – Gerechtigkeit und Trennung – festgestellte Problem der Ideologie, denn aus Empathie entsteht noch nicht notwendig ein realistisches Bild von einer zukünftigen Lösung, ganz zu schweigen davon, dass Dialog-Ansätze bisher immer nur einen kleinen Teil der Bevölkerungen erreichen konnten.

Alle drei Ansätze – Gerechtigkeit, Trennung, Dialog – haben also das Problem, dass sie nicht erfolgreich mit dem Thema der Ideologie umgehen. Diese ist nämlich der hauptsächliche Treibstoff des Konflikts. An die Ideologien muss man herangehen, um eine Lösung zu finden, solange es keine koordinierte Initiative gibt, den Konflikt von außen zu befrieden (wonach es derzeit nicht aussieht). Ideologien sind auch wichtiger als die in diesem Artikel bereits mehrfach erwähnten negativen Emotionen. Denn es stimmt zwar – wie es z.B. die israelische Serie "Fauda" darstellt –, dass Menschen auf beiden Seiten in einer Spirale von Rache und Gewalt gefangen sind. Aber Ideologien strukturieren den Blick der Menschen darauf, wie die Lösung dieser Gewaltspirale aussehen solle. Was das "Licht am Ende des Tunnels" ist. Ideologien stehen gerade für die "höheren" Ideale und “sachlichen” Positionen beider Seiten, die den Anspruch haben, über die Ebene der Emotionen hinauszugehen.
Und auf beiden Seiten sind Ideologien verbreitet – mit Hintergrund in rechtem, linkem, religiösem Denken –, die lehren, dass es gut und richtig ist, der anderen Seite niemals Vertrauen zu schenken. Weil sie jüdisch, imperialistisch, kolonial sei. Weil sie islamisch, arabisch, barbarisch sei. Das Problem ist hier erneut weniger die Existenz von starken Emotionen, sondern von Ideologien, die diese Emotionen in eine scheinbar höhere und klügere Ebene überführen.
Für diese scheinbar wahnsinnige Position haben die extremen Akteur:innen auf beiden Seiten aber gerade von außen immer so viel Beifall und sogar Liebe erhalten, dass diese Ideologien kein bisschen schwächer geworden sind. Auf der palästinensischen Seite geht es dabei um islamistische Bewegungen wie die globale Muslimbruderschaft, die islamische Republik Iran oder auch den Salafi-Jihadismus.
Historisch war der brutale Pan-Arabismus mit Figuren wie Gamal Abdel-Nasser oder Saddam Hussein zentral, seit 1967 bis heute zudem die globale Linke, die Palästina als Speerspitze des Kampfes gegen den westlichen Imperialismus sieht. Auf der israelischen Seite geht es um den US-amerikanischen Konservatismus, die christliche Rechte Nord- und Südamerikas, den europäischen Rechtspopulismus und zunehmend auch um die indische Rechte und den autoritären Nationalismus der arabischen Golfstaaten.
Dadurch haben sich Echo-Kammern gebildet, in denen beide Seiten immer wieder genug positives Feedback dafür bekommen haben, ihre durch einen objektiven Konflikt erzeugten Emotionen gerade nicht in eine versöhnliche, sondern in eine unversöhnliche Ideologie zu sublimieren. Rassismus und Antisemitismus gelten in Israel und Palästina oft mehr als Tugenden denn als Problem. Die Zerstörung des Feindes gilt als der Königsweg zum Frieden und daher gerade als die moralisch gute Tat.
Solange das so ist, kann kein Frieden entstehen. Diese Ideologien müssten, damit Frieden tatsächlich eine Möglichkeit wird, entkräftet werden. Beiden Seiten müsste klargemacht werden, dass die Zerstörung des Feindes kein legitimes politisches Ziel ist. Das ist zwar eine unerreichbare Utopie, und derzeit sieht nichts danach aus. Aber erst danach könnte man meiner Meinung nach darüber nachdenken, echtes, auf Empathie beruhendes Vertrauen aufzubauen.
Tom Khaled Würdemann Ist Nahostwissenschaftler am Graduiertenkolleg "ambivalente Feindschaft" der Hochschule für jüdische Studien und Universität Heidelberg. Er schreibt seine Dissertation über die palästinensische Nationalbewegung und ist seit mehreren Jahren pädagogisch gegen Rassismus Antisemitismus und Extremismus aktiv.