ELEVATE: Was sind deiner Einschätzung nach die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre?
Natürlich die Krise von 2008, die wir nicht nur als Wirtschafts- und Finanzkrise, sondern als multiple Krise begreifen sollten. Denn darin drückt sich eine umfassende Krise des neoliberalen aus, auch seine Formen der politischen Repräsentation, die den Eliten immer mehr Macht gab und gibt; seine Formen der Naturaneignung, derzufolge deregulierte Märkte am besten die Ressourcen bereitstellen und Umweltpolitik vor allem auf den Markt – sprich: das kapitalistische Profitprinzip - setzt. Das wird derzeit in den Konzepten der „Green Economy“ aktualisiert.
Dazu kommt der welthistorisch in einmaliger Geschwindigkeit sich vollziehende Aufstieg der Schwellenländer und die damit einhergehenden geopolitischen und weltwirtschaftlichen Beziehungen. Wir sehen erst in Ansätzen, etwa an China und dessen Rolle, was das bedeutet.
ELEVATE: Welche Lösungsansätze und Alternativen hältst du für vielversprechend, wenn es darum geht, zerstörerische Wirtschaftsweisen und die Profit- und Machtinteressen der Eliten zurückzudrängen und eine lebenswertere Welt für alle (auch zukünftige Generationen) zu schaffen? Welche Projekte, Initiativen und Menschen inspirieren und motivieren dich?
Wir haben seit einigen Jahren eine sich intensivierende Alternativendiskussion; und es gibt ja auch sehr viele praktische Ansätze. Stichworte sind Ernährungssouveränität und Klimagerechtigkeit, Commons und Degrowth; es gibt Ansätze der Transition Towns, urbanes Gärtnern, Alternativökonomie. In Lateinamerika gibt es Debatten und Ansätze unter Begriffen wie Buen Vivir, Commons, Post-Extraktivismus.
Bei der beeindruckenden Degrowth-Konferenz im September in Leipzig wurde mir deutlich, wie viele junge Menschen sich nach Alternativen sehnen und die auch ganz praktisch realisieren wollen.
Schwieriger ist die Vermittlung von praktischer Kritik und Alternativen von der eher lokalen und kleinteiligen Ebene (wichtig genug!) auf jene der Gesellschaft. Da scheinen Machtverhältnisse und Praktiken sehr stark eingeschliffen. Das sehen wir in der aktuellen Krise. Das wird aber kommen. M.E. müssen wir vor allem ein „Europa von unten“ in den Blick nehmen, Herausforderungen verstehen und annehmen. Um es an einem Beispiel zu zeigen: Was macht die europäische Linke, wenn in Griechenland Syriza an die Regierung kommt? Das scheint mir ein wichtiges Feld zu sein – nur eines natürlich – und hier zeigen sich viele Probleme.
ELEVATE: Was empfiehlst du Menschen, die selbst aktiv werden wollen? Wo
und wie können sie mitwirken?
Das kann ja gerade nicht allgemein beantwortet werden. Die je konkreten Menschen sollten sehen, wo es in ihrem Umfeld Möglichkeiten gibt. Wie kann
individuell und kollektiv progressive oder emanzipatorische Handlungsfähigkeit hergestellt werden? Was sind angenehme und attraktive Netze, wie können Erfahrungen verarbeitet, wo können Initiativen gestartet werden? Das sieht bei Schüler*innen anders aus als bei Auszubildenden, Studierenden oder wieder anderen.
Politikmachen ist ja nicht nur Aktivität nach Feierabend, sondern oft und gerade auch in den beruflichen Verhältnissen. Menschen sind in Betrieben und Gewerkschaften, in Schulen und Hochschulen. Dort je konkret zu Aufklärung und politischen Verschiebungen beizutragen ist so wichtig wie sich in Bewegungen oder bei NGOs zu engagieren.
ELEVATE: Wie wird die Welt deiner Meinung nach 2030, 2050 und 2100 aussehen? Welche düsteren Szenarien drohen bei „Business-as-usual“ Wirklichkeit zu werden? Welche erfreulichen Entwicklungen kannst du dir vorstellen?
Oh, das ist eine sehr komplexe und schwierige Frage. Ich will der Antwort nicht ausweichen, kann aber nur Elemente nennen. Das allgemeine Ziel ist eine „attraktive Produktions- und Lebensweise“ als gelebte, akzeptierte und gewünschte Praxis samt der Akzeptanz von Unterschiedlichkeit, von Individualität. Wenn man so will, andere Verständnisse und Praktiken von Wohlstand. Das Leben von Menschen und Gesellschaften kann dabei nicht auf Kosten anderer gehen. Solch eine Lebensweise muss sich in Zeiten von billigen Flügen und Mobiltelefonen erst als nachhaltige und solidarische gegen Unternehmensstrategien und staatliche Politiken, gegen alltägliche Praxen und verbreitete Begehren etablieren. Alles andere wäre politisch naiv. Entsprechende Vorschläge und Initiativen müssen aktuelle Erfahrungen und Wünsche der Menschen umarbeiten; und sie müssen sich mit mächtigen ökonomischen und politischen Akteuren anlegen, die sich nicht auf solch einen Transformationsprozess einlassen oder nur dann, wenn sie die Bedingungen vorgeben (wie etwa bei den Strategien für eine Green Economy).
Warum ich etwas verhalten bin: Zukünfte werden gerade von mächtigen Akteuren gefasst und gedeutet (etwa über Szenarien), sie werden dadurch vergegenwärtigt und damit zum Objekt von (Nicht-)Entscheidungen und (Nicht-)Handeln. Insofern kann die Perspektive sozial-ökologischer Transformation, die ja mein Thema bei Elevate 2014 ist, durchaus einen Eingriff in Auseinandersetzungen um Zukünfte und damit um Gegenwärtiges und damit in gesellschaftliche Kräfteverhältnisse darstellen. Wenn nämlich angesichts zunehmender Krisen, unerfüllter Versprechen von Gerechtigkeit und gutem Leben, zunehmender Barbarei in Teilen der Welt und anderer Entwicklungen relevante Akteure sehen, dass es grundlegenderer Veränderungen bedarf, die auch wirklich realisiert werden müssen und die ein anderes eigenes Handeln erfordern.
ELEVATE: Was wünscht du dem Elevate Festival zu seinem zehnjährigen Jubiläum?
Alles Gute! Und auf die nächsten 10 Jahre! Ihr habt einen wertvollen Raum geschaffen, um emanzipatorische Perspektiven und Ansätze zu verbreiten, sie zu diskutieren und zu reflektieren, Menschen zu ermuntern und Aktive in ihrem Tun zu bestätigen. Dazu gratuliere ich herzlich.
Ulrich Brand ist am Freitag bei der Diskurs-Veranstaltung Elevate Socio-ecological Transformation zu Gast.