Die Zukunft der Sauna: Ruhekur oder Weiterschwitzen im High-Speed-Loop?

Friday,21 Oct 11 11:56
Music Talks: Sonntag um 17:00 im Dom im Berg

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Im P-Land nichts Neues: Die Popmaschine pfeift aus dem letzten Loch. Sowohl ihre Reglerschieber als auch ihre Schützlinge schwitzen im hochgepitchten Emotionsloop und fiebrigen Retrowahn. Verschnaufpausen sind so last century.  Ausgehend von Simon Reynolds Popanalyse „Retromania“ fragt sich eine prominent besetzte ExpertInnenrunde beim heurigen Elevate Festival, wie es in der schwer angeschlagenen und sich selbst immer wieder in den Schwanz beißenden elektronischen Popkultur weitergehen kann. Ob das Podium Lösungen birgt, oder ob Pop eher eine Frischzellenkur a la Davos benötigt, wird sich zeigen.

Die Clubkultur basiert auf dem simplen Prinzip der Sauna: Verschwitzte, ekstatische Körper entzücken sich an periodisch wiederkehrenden Aufgüssen. Der gesamte Soundpool der Geschichte lagert in den Macbooks der Performer und DJs, ätherisch angereichert und gewitzt zerhackt und re-kombiniert dient er der Stimmungsaufhellung der Tänzerinnen und Tänzer. Die Wirkung dieser kathartischen Praxis entfaltet sich am besten über meditative Wiederholung, ein Modus, der suggeriert, die Nacht werde niemals enden: Der Loop, die ewige Wiederkehr ist das zentrale Moment des Raves.  

Das Repetitive gilt jedoch nicht nur als Rezeptur zeitgenössischer elektronischer Tanzmusik, sondern war seit Anbeginn das Modell der Popkultur. Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung – diese neurotische Achse der Massenkultur erkannte Theodor W. Adorno bereits 1944 in seinen Ausführungen über die Kulturindustrie in der zusammen mit Max Horkheimer verfassten und zum Klassiker avancierten Essay-Sammlung „Dialektik der Aufklärung“: „Was an der Kulturindustrie als Fortschritt auftritt, das unablässig Neue, das sie offeriert, bleibt die Umkleidung eines Immergleichen …“ Der Medientheoretiker Vilém Flusser taufte die Re-Integration kulturellen Mülls in die Kultur in seinem terminologischen Raster Kitsch. Ein Begriff, den der deutsche Soziologe Norbert Elias 1935 in seinem Aufsatz „Kitschstil und Kitschzeitalter“ bereits in ähnlicher Verwendung antizipierte. Roxy Music schmiedeten dann 1972 daraus den Song „Re-Make/Re-Model“, der seit damals als Catchphrase durch die Referenznation geistert. Die Sampling-Vorreiter Pop Will Eat Itself trugen das schicksalhafte Paradigma der Massenkultur als ihren Namen, prognostisch gemeint, aber eigentlich schon längstens Fatum. Und Simon Reynolds, der Poptheoretiker der Stunde, nennt dieses Phänomen des permanenten Geschichtsremix schließlich Retromania. Sein gleichnamiges Buch ist in aller Munde und eine letzte Zustandsdiagnose des kulturellen Zerfalls.

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Pop lebt seit jeher von der Romantisierung bzw. der Mythifizierung seiner Historie. Im verklärten Aufguss des Vergangenen erfährt Pop jene Intensität, die für ihn so charakteristisch ist. Zentral ist hier die Überhöhung und hypertrophe Inszenierung des Erlebens mittels bewusster und unbewusster Erfahrungsmanipulation, sodass den einzelnen Stationen – von Konzerten über Disco-Nächte bis hin zum Geschlechtsakt danach – eine Außeralltäglichkeit zugeschrieben wird, die als Referenzpunkte in der persönlichen und der kollektiven Pop-Geschichte funktionieren. So wird beispielsweise das Jahr 1966 mit Dylans „Blonde on Blonde“, roten Schlaghosen, dem ersten LSD-Trip und berauschten Liebesnächten, als das Leben noch freier und einfacher war, zu einem sehnsüchtig angestrebten Idealzustand (natürlich egal wie das Jahr wirklich war).

Alle Stationen von Pop werden immer wieder – sowohl im medialen Bereich als auch in der alltäglichen Kommunikation – als außergewöhnlich inszeniert und romantisiert. Es ist der romantische Mehrwert, der Pop seine Besonderheit und seine Ausstrahlung verleiht. Es ist dieser Mehrwert der viele Kritiker oft verleitet, anzunehmen, dass Pop von Natur aus mehr ist, als nur Freizeitunterhaltung. Es ist auch dieser Surplus, der ja in seiner Natur ein privater ist, aber meist generationenspezifische Überschneidungen hat, der von der Kulturindustrie ökonomisch funktionalisiert wird.

Wie Martin Büsser in seinem Buch „Antipop“ beschreibt, ist ein wesentlicher Prozess beim Ausbleiben tiefgehender Pop-Erfahrungen das Einsetzen der romantischen Sehnsucht nach dem Vergangenen. Die gegenwärtige Retro-Kultur, die ja ein zentraler Teil dessen ist, was Diedrich Diederichsen einst Pop II nannte, kann als die kulturindustrielle Verwertung der kollektiven Pop-Sehnsüchte verstanden werden. Die Recycling-Gesellschaft, eine Assoziation der Reizüberflutung und der Durch-Eventisierung, findet den nächsten Kick meist im Vergangenen: Die Pop-Geschichte soll die Leere des Jetzt und die fehlenden Momente der Euphorie kompensieren. Die Sehnsucht nach dem für einen selbst sinnvollen Außergewöhnlichen wird mit Reunions, Revival-Shows, 80er und 90er-Jahre-Parties und After Business-Clubbings im Studio 54-Stil eingelöst.

In all den Retro-Inszenierungen wird das Gefühl geweckt, man sei Teil von etwas Besonderem, man sei Teil einer Generation oder zumindest einer historisch legitimierten Entität, die über ihre Geschichte zusammengeschweißt ist. Hier findet schließlich die Ausdehnung von Pop auf alle geschichtlichen Stationen einer Generation statt. Das kollektive Gedächtnis trennt hier nicht mehr zwischen Anti-AKW-Demos, Wickie, schwülen Disconächten, der Ölkrise und geschmacklosen Modeerscheinungen von Glockenjeans über bonbon-farbene Rollkragenpullis bis hin zum Glanzlippenstift und Mannerschnitten. In der Retro-Gesellschaft findet eine kollektive euphorische Überhöhung geschichtlicher Perioden statt, die von der Sehnsucht nach den „großen Momenten von Damals“ gespeist wird.

Zentral ist, dass die Retro- und Revival-Kultur über Emotionen funktioniert. Das Wieder-Erleben bzw. das Wieder-Nachempfinden von Erfahrungen aus der jeweiligen prägenden geschichtlichen Periode basiert auf der selektiven Revitalisierung großer Gefühle. Bei den verschiedenen Revival-, Reunion- und Retro-Events tritt die Inszenierung großer Gefühle zu Tage: Die Erinnerung an vergangene Zeiten – die meist durch die Ausblendung des Negativen als unbeschwertere, bessere empfunden werden – lassen den Alltag vergessen. So wecken etwa die Songs und Sounds der 80er Jahre bei jener Generation, für welche diese historische Periode prägend war, bestimmte Emotionen und Erinnerungen. Diese wach gerüttelten Gefühle können mit vielen Lebensepisoden, von der ersten großen Liebe über die bestandene Matura bis hin zu den endlos erscheinenden durchgemachten Party-Nächten, in Verbindung stehen.  

Die Frage ist, schleift der kulturindustrielle Emotionen-Loop gleich wie vor einem halben Jahrhundert? Oder hat sich etwas getan? Wer Augen und Ohren offen hat, kennt die Antwort schon längst. Die Beschleunigung hat auch vor dem Loop nicht Halt gemacht, er läuft schneller – viel, viel schneller, so unglaublich schnell, dass allen Protagonisten im Popland die Puste ausgegangen ist: Die Inhalte der alles überflutenden, digital omnipräsenten Archive werden im Nanosekundentakt geplündert, neu bestückt, umgedeutet und re-arrangiert, und über die Rezipienten mit philanthroper Gestik vergossen – so großzügig gab sich die Kultur noch nie zuvor. Doch Jovialität hat Nebenwirkungen: die Hörer sind ausgebrannt, die Tänzer auf Stillstandsdrogen. Raum und Zeit war noch nie so gestern wie im Heute des 21. Jahrhunderts. Zudem haben die Nullen und Einsen der Historisierung von Populärkultur in die Arme gespielt: Die Kultur ist endlich frei to be whatever, also gratis und soviel wert, wie man eben ihr zuschreiben mag und kann. Und vor der Kulisse des Immergleichen kollabiert so nebenbei der Kapitalismus. Vielleicht sollte Pop auf Kur gehen. Eine Freiluft-Liegekur a la Thomas Manns Zauberberg empfiehlt sich: Stundenlanges Suhlen in kräftigender Bergluft, Geist und Körper wieder in Gleichklang und kein Schwitzen mehr im Loop. Davos ist ein wunderbarer Ort, außerdem sei die Schweiz ziemlich krisensicher. Sagt man.

Großartig ist, dass es Menschen gibt, die noch nicht im Burnout sind. Und sich weiter unterhalten wollen, über Pop, elektronische Musik und die Zukunft des Loop-Dilemmas. Löblich ist auch, dass sie dies nicht in vermeintlich krisensicheren Luftkurorten tun, sondern in Graz im Rahmen des Elevate Festivals: Der Londoner Simon Reynolds, der wichtigste zeitgenössische Poptheoretiker und Autor von Retromania, wird via Live-Stream einen Impulsvortrag halten, live vor Ort sind vertreten der Wiener Medienforscher und Informationsaktivist Konrad Becker von monoton, der zwischen Dub und Experiment wandelnde New Yorker Komponist Raz Mesinai, die 22-jährige, in Estland geborene und in London lebende Weird-Electronica-Chanteuse Maria Minerva und das viel gepriesene, von Berlin aus operierende Kunst meets Pop-Duo Hype Williams.

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Letztere sind einer der bekanntesten Vertreter dessen, was in Auskennerkreisen als Hypnagogic Pop zirkuliert: Absurde, außerweltliche Lo-Fi-Soundscapes, die sich über einen grotesken Zitaterausch (vornehmlich Cheese und AOR-80er und 90er R’n’B) und sogenannte „Demon Channels“ (James Ferraro) aus dem Historisierungs-Loop in eine Sphäre entrückter, tranceartiger Gelassenheit jenseits der Zwänge von Raum und Zeit winden. Hier wird das Stampfen der Popmaschine mittels popeigener Tools und mannigfaltiger unartiger Frequenzen (Rauschen galore) übertönt. In Holders of the Ego Pass, einer Kritik des heurigen Sónar Festivals, betonte ich, dass Hype Williams eine Art inkarnierte Hyperrealität seien, psychedelische Simulacra, die trotz der historisch einzigartigen Überreizung und Ausbeutung des Archivs, das Ende des Archivs anerkennen – es zelebrieren und in einem Wicker Man’schen Taumel abfackeln. Man darf gespannt sein, was Hype Williams zur Lage sagen werden, oder ob ihre Voice doch eher jene nichtstandardisierter, rauschhafter und verlorener Signifikanten ist. Eines ist jedoch sicher: Sobald jemand Hype Williams samplet, geht’s ab nach Davos!

Autor:

Christoph Marek, geb. 1976 in Wien, studierte Soziologie und Anglistik u. Amerikanistik in Graz und Oxford. Freier Redakteur für verschiedene Medien und Kulturinstitutionen (Falter, testcard, HDA - Haus der Architektur Graz, springfestival etc.). Musikveröffentlichungen und Kompositionen unter mehreren Alias, u.a. als Marek bei niesom. Texte zu Fragen der Kulturtheorie und Pop, eine soziologisch-vergleichende Monographie zur Genese von Pop und der Kultur des deutschen Schlagers: „Pop/Schlager“ (LIT, 2006). Christoph Marek lehrt am Studiengang Informationsdesign an der FH JOANNEUM, Graz.

https://www.facebook.com/christoph.marek

www.marek-music.com

 

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