Skip to main content

Interview Anne Roth

Wir haben unsere Gäste zu grundlegenden Fragen des Festivals befragt. Hier die Antworten von Anne Roth. Sie wird am 24. Oktober um 18.30 an einer Diskussion zum Festivalthema teilnehmen und am 26. Oktober um 10 Uhr einen Workshop zum Schutz der digitalen Privatsphäre anbieten.

ELEVATE: Was bedeutet Open Everything für dich?

Als Aufforderung vestanden bedeutet es: mach alles auf! Das ist der Imperativ des Hackens und heißt nichts anderes, als das wir nachschauen, was drin ist, um es dann vielleicht zu ändern, wieder zusammenzusetzen und anders zu benutzen. Technisch genauso wie politisch oder gesellschaftlich.

Ich bin aber nicht der Meinung, dass alles offen sein sollte. Da gilt, auch Teil der Hacker-Ethik: öffentliche Daten müssen offen, persönliche Daten aber privat sein. Wobei natürlich immer schwieriger wird, dazwischen die Grenze zu ziehen. Ich hoffe, dass wir darüber beim Elevate-Festival viel reden werden.

ELEVATE: In welchen Bereichen ist Openness für dich besonders wichtig? Welche aktuellen Entwicklungen nimmst du dort gegenwärtig wahr? Mit welchen Herausforderungen sind wir konfrontiert?

Öffentlich finanzierte Daten müssen offen sein: da fallen mir als erstes Wissenschaft oder Geodaten ein, aber auch die Produktionen der öffentlich finanzierten Medien. Und offen heißt eben zB, dass Dokumente in Formaten vorliegen müssen, die einfach technisch verarbeitet werden können.

Eine Herausforderung ist die Definition privater Daten und die Beschäftigung mit der Frage, was genau anonymisierte Daten ausmacht. Es ist einfacher, als die meisten denken, scheinbar anonyme Daten Personen zuzuordnen. Das Wissen darüber gibt es durchaus, aber in demselben Maß, wie Daten zugänglich gemacht werden, muss die Auseinandersetzung darüber stattfinden, wie die Menschen hinter den Daten geschützt werden können.

ELEVATE: Die neue Openness birgt großes Potenzial für Selbstermächtigung und Partizipation, aber auch die Gefahr der totalen Überwachung, Kontrolle und verschärften Ausbeutung und Unterdrückung. Wie schätzt du die Situation ein: welche Tendenz überwiegt?

Aktuell leider die totale Überwachung. Sowohl für Selbstermächtigung als auch für Überwachung sind Ressourcen nötig: Zeit, Geld, technisches Wissen. Leider sind die extrem ungleich verteilt, und das Ergebnis sehen wir seit Monaten im Wochenrhythmus durch die Leaks von Edward Snowden.

ELEVATE: Was müsste gemacht werden, damit das emanzipatorische Potenzial der Openness genutzt werden kann?

Bildung und Ausbildung müssten auf den Kopf gestellt werden, angefangen bei der Lehrer_innen-Ausbildung. Es ist viel mehr technisches Wissen nötig, und wenn ich mir angucke, was meine Kinder gerade an deutschen Grundschulen lernen, auf was für Computern, dann sehe ich, was für Lücken zwischen Realität und Möglichkeiten klaffen.

Dazu ist eine digitale Revolution in Politik, Wissenschaft und Verwaltung nötig (mindestens). Häufig heißt es ja, dass dabei das Alter der Leute eine Rolle spielt, die die Entscheidungen treffen. Das stimmt vielleicht ein bisschen, aber ich denke, dass es eigentlich an anderen Dingen liegt. Ich bin selber 45, also nicht so viel jünger als die Leute, an die wir dabei denken, und sicher deutlich älter als die jungen Menschen, die als Dital Natives gesehen werden und denen dabei die Rolle zugedacht wird, diese Probleme quasi biologisch zu lösen.

Ich fürchte, dass auch hier Auseinandersetzungen um Macht und Kontrolle die entscheidende Rolle spielen. Wissen ist Macht, das wissen alle beteiligten Seiten.

Ich wünsche mir, dass sich die Erkenntnis durchsetzt, dass eine Gesellschaft insgesamt davon profitiert, wenn Wissen geteilt wird und das Technik dabei behilflich sein kann, aber das Interesse daran, die Kontrolle zu behalten, steht wohl im Widerspruch dazu und diese Auseinandersetzung wird sich nicht (allein) technisch lösen lassen.

ELEVATE: Für wie wichtig hältst du den Schutz der Privatsphäre und privater Daten? Ist die Gesellschaft der Zukunft vielleicht eine Post-Privacy-Gesellschaft?

Sehr wichtig, allerdings haben wir zur Zeit ja auch Debatten darüber, was das eigentlich ist im Jahr 2013: Privatsphäre. Solange wir keine gleichberechtigte Gesellschaft haben, glaube ich nicht an die Post-Privacy-Gesellschaft, in der wir nichts zu befürchten haben, wenn wir nichts geheim halten können. Und damit ist Post-Privacy eine Utopie.

Was sind private Daten? Sind Daten über Zwangsräumungen in Berlin oder Madrid öffentliche Daten? Wenn in einem Häuserblock in Berlin-Neukölln im Jahr 2012 eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kleinkindern, ein Rentner-Ehepaar und eine Familie mit 5 Kindern geräumt wurden: öffentliche oder private Daten? Ich würde mir darüber mehr Diskussion wünschen und auch mehr Vermittlung von Fachwissen. Denn wenn den Verbänden der Hausbesitzer bekannt ist, wer anderswo schon die Miete nicht zahlen konnte, dann wird deutlich, warum der Schutz der Daten wichtig ist.

ELEVATE: Wie werden die neuen Technologien, Produktionsweisen und Kommunikationsmöglichkeiten die Gesellschaft deiner Meinung nach verändern?

Sie ändern sie ja schon die ganze Zeit - hat das nicht mit der Erfindung von Eisenbahn und Radio angefangen?

Technik ersetzt manuelle Arbeit und schafft neue Freiräume. Entweder für andere Tätigkeiten oder aber zum Geldverdienen. In welche Richtung das geht, wird von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmt, das ist überhaupt nichts Neues. Digitale Medien verändern aber natürlich auch massiv die 'Handarbeit' der Menschen, die lesend und schreibend arbeiten. Dass die Karteikästen in den Bibliotheken aussterben, macht wohl niemanden traurig. Wir haben viel mehr und schneller Zugriff auf Wissen und können anders und schneller Wissen produzieren. Nachrichten genauso: hier sind die Auseinandersetzungen um Macht und Geld vielleicht gerade am sichtbarsten. Während ich dies im Zug nach Graz tippe, findet in Hamburg der 'Publishers' Summit' statt, wo sich Verleger immer noch gegenseitig damit Mut machen, dass mit Print am meisten Geld zu verdienen sei. Die Naivität verblüfft mich, sagt aber auch viel darüber aus, mit wieviel Kraft sie sich gegen die Entwicklung stemmen.

Leider ist es auch so, dass die neuen Medien Ausschlussmechanismen reproduzieren, die nicht neu sind. Technik ist männlich, weiß, akademisch und das ist bei freien Formen nicht anders, eher im Gegenteil. Das bestätigt mich in der Befürchtung, dass Technik allein keine Probleme löst. Trotzdem hoffe ich, dass mehr Partizipation und Interaktivität langfristig auch unsere Gesellschaften offener machen.

ELEVATE: Wie können wir alle zu positiven Veränderungen beitragen?

In dem wir soviel lernen wir möglich und angesichts der neuen Möglichkeiten neugierig bleiben. Wir müssen sicher auch lernen, mehr dumme Fragen zu stellen ohne die Angst, uns damit lächerlich zu machen. Und unser neues Wissen mit anderen teilen. Ich denke, dass die meisten den Reflex kennen, neuen, gerade technischen, Entwicklungen gegenüber skeptisch zu sein und zuerst die möglichen negativen Folgen zu sehen. Die dürfen auch nicht übersehen werden, aber dennoch sollten wir auch die Gelegenheiten sehen, die sie uns bieten und sie für positive Entwicklungen nutzen. Zuallererst vielleicht, um alle Teile der Gesellschaft auf diesem Weg mitzunehmen und nicht eine neue digitale Elite zu schaffen.

Anne Roth

> Open Everything?

> Me and my shadow