Rad rhizomes: Not Not Fun Records (eine Einführung)

Sunday,16 Oct 11 16:14
Not Not Fun Records

Not Not Fun Records

Trotzdem geschieht alles, was wichtig war und ist, durch das amerikanische Rhizom: Beatnik, Underground, Banden und Gangs, aufeinanderfolgende Seitentriebe, die unmittelbar mit einem Außen verbunden sind. [...] Und die Himmelsrichtungen in Amerika sind anders: im Osten findet die Suche nach dem Baum und die Rückkehr zur Alten Welt statt. Aber der Westen ist rhizomatisch, mit seinen Indianern ohne Abstammungslinie, seinem immer fliehenden Horizont, seinen beweglichen und verschiebbaren Grenzen. Im Westen, wo sogar die Bäume Rhizome bilden, gibt es eine typisch amerikanische "Karte".

(Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (Berlin 2005), 33.)

Die künstlerische Praxis psychedelischer, Noise- und sonstiger (meist undefinierbarer) Undergroundfelder verbreitet, verwandelt und vervielfältigt sich, nicht zuletzt aufgrund der schwer einschätzbaren Auswirkungen des Internet und seiner Nutzung auf unsere täglichen Aktivitäten und sozialen Beziehungen. Nicht nur der amerikanische Westen beherbergt Do It Yourself (DIY)-Labels von unterschiedlichem Profil und Erfolg. Nichtsdestotrotz ist die Option sehr verführerisch, die oftmals sonnendurchflutete und enthusiastisch bizarre Ästhetik des Not Not Fun-Labels (NNF) als "sehr LA" oder zumindest sehr kalifornisch zu identifizieren. Sun Araws glimmernde Beach Head-Fantasien, Amanda Browns warme Covercollagen, die ozeanische Großzügigkeit von Inca Ores Silver Sea Surfer School... und doch würde eine solche Reduktion dieser und anderer NNF-Veröffentlichung Jenen keinen Gefallen tun, die die schiere Breite des Labeloutputs begreifen wollen. Line-Up und Charakter des Labels sind "rhizomatisch" und daher vor allem heterogen und dynamisch, können nicht durch die Benutzung standardisierter Genrereferenzen verstanden werden.


Am Ehesten lässt mich die fehlende Bindung des Labels an übergestülpte Kategorien an Baudrillards Kontrastierung des flachen, langen, horizontalen Los Angeles mit dem emporragenden, vertikalen New York (und noch mehr mit europäischen Städten) denken: eine Stadt- und Tonträgerlandschaft der Ästhetik(en), wüstenähnlich in ihrer kaum vorhandenen Stratifizierung, nicht durch umfassende Kategorien determiniert und ohne Fokus auf Repräsentation. Dies mag schrecklich ernst klingen, aber hier erscheint der nächste wichtige Aspekt: diese fehlende Determinierung durch Konzepte und die Nonchalance, die beispielsweise in Pocahaunted-Interviews und im Labelnamen zu Tage tritt, halten die Musik nicht davon ab, interessant und originell zu sein. Hörer_innen treffen hier auf mannigfaltige Musiken, die sich aus einem Reservoir an Wissen und einer großen Bandbreite kreativer Impulse manifestieren. Letztere müssen nicht unbedingt auf einem bestimmten künstlerischen Ethos basieren sondern können Ausdruck von Freundschaft und alltäglichen Aktivitäten sein: eine neue "Folk"-Musik (siehe auch die sozialen Aspekte von Matt Valentines und David Keenans jeweiligen Zugängen zum Begriff "free folk"), die freudig experimentiert und improvisiert, mit Leichtigkeit hyperkonnektive aber doch persönliche Klänge / Werke generiert.

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Doch sogar hier verallgemeinere ich. Wer ist NNF, und wo lässt NNF sich situieren? Das Label wird vom Ehepaar Amanda und Britt Brown geleitet und ist seit 2004 aktiv. NNF ist in Los Angeles beheimatet und wurde nicht zuletzt von dessen blühenden DIY-Noise- / Punk-Feld inspiriert, das sich um Örtlichkeiten wie The Smell dreht und Bands wie Foot Village beheimatet. Die Aktivitäten diverser Underground-Label und -Künstler_innen von Sonic Youth bis Riot Grrrl gaben Vorbilder für den Umgang mit Ästhetik, den Zugang zur Kunst und die Arbeit des Labels ab. Während der folgenden Jahre wuchs das Profil der jeweiligen Projekte der Browns - am Bekanntesten darunter Pocahaunted und Robedoor, die sich unterschiedlichen Schattierungen evokativ-psychedelischer Drone-Forschungen widme(te)n. Dasselbe galt für andere Künstler_innen, die aus dem NNF-Umfeld stammen, beispielsweise Sun Araw (Cameron Stallones von Magic Lantern), dessen unverkennbarer Sound sich ähnlich Pocahaunteds entwickelte: die neblige Drone-Ästhetik wurde immer mehr mit dezidiert rhythmischen, dubbigen Elementen verwoben. Diese Künstler_innen wurden auf Websites wie jener des Glasgower Geschäfts Volcanic Tongue oder dem Forum Fangs & Arrows präsentiert und diskutiert und verstärkt in Magazinen wie dem britischen Wire besprochen. Verbindungen zu gleichgesinnten Labels wie Digitalis (Oklahoma), Excite Bike (Michigan), Night People (Iowa) oder Arbor und Woodsist / Fuck It Tapes (New York) wurden geknüpft. Gemeinsam mit internationalen Assoziationen zu Ruralfaune (Frankreich), Blackest Rainbow oder Volcanic Tongue (Großbritannien) geben sie einen brauchbaren Eindruck von NNFs baldiger Einbindung in Netzwerke, die Andy Bennett und Richard A. Peterson als "trans-lokale" und "virtuelle" Szenen bezeichnen würden. Diese Labels tendieren dazu, Ästhetiken zu teilen und Personal auszutauschen, und ihr DIY-Ethos wird durch das Vorhandensein von Formaten wie CD-Rs und Kassetten gefördert und mitermöglicht. Diese Formate werden meistens in kleineren Auflagen veröffentlicht, während Vinyl und CDs besonders für Veröffentlichungen bereits etablierter Künstler_innen auf NNF genutzt werden. Wie Simon Reynolds suggeriert, scheint eine gewisse Spannung - nicht unbedingt ein Widerspruch! - zu bestehen; zwischen NNFs Liebe und Einsatz für das Haptische, das Kunstwerk, das physische Medium einerseits und der Bedeutung digitaler Kommunikation für die Entwicklung des Labels andererseits.

Im Laufe der Jahre hat NNF mit Bands gearbeitet, die schon seit langer Zeit im US-Underground tätig sind, so beispielsweise Charalambides oder GHQ, die wiederum mit leicht älteren Generationen experimenteller psychedelischer Labels wie Eclipse oder Siltbreeze assoziiert sind; Heather Leigh Murray, einst Charalambides-Mitglied und nun Mitbetreiberin von Volcanic Tongue, hat auf NNF Soloalben veröffentlicht; die mit NNF verbundenen Künstler_innen Jed und Nick Bindeman (von Eternal Tapestry), Natalie Mering (Weyes Blood), Honey Owens (Valet) und Eva Saelens (Inca Ore), selber jeweils markante Musiker_innen, waren alle zum einen oder anderen Zeitpunkt Mitglieder der wuchernden Free-Form-Gruppe Jackie-O Motherfucker aus Portland, Oregon. Was wie unaufhörliches Namedropping meinerseits wirken mag soll NNFs Verbindungen zu anderen, mannigfaltigen Linien explorativer, meist DIY-basierter Musik betonen, die (nicht nur) während der letzten zwei Jahrzehnte aufgetaucht sind. NNF ist nicht eine einzelne "Szene", die plötzlich auf der Karte erschienen ist, sonder kann historisch situiert werden - wenn ebendiese Historie als nonlinear konzipiert wird.

In letzter Zeit wurde NNF mit jenen Tendenzen assoziiert, die David Keenan als "hypnagogic pop" bezeichnet hat - Künstler_innen des "post-Noise underground", die bestimmte Materialien, vor allem Pop- und New Age-Modi aus den 1980ern, aufgreifen und zur Erschaffung persönlicher alternativer Universen nutzen. Ebenso, und bei gleichzeitiger Beibehaltung früherer Verbindungen, hat sich das Label in interessantem und vielleicht unerwartetem Umfeld gefunden, das von Websites wie dem Online-Geschäft Boomkat, FACT Magazine oder der von Pitchfork gegründeten Blog-Kooperation Altered Zones repräsentiert und rezipiert wird, wenn auch es nicht auf diese reduziert werden sollte. Diese Seiten besprechen Musiken, die aus dem (eher sozial als ästhetisch verständlichen) psychedelischen / Drone- / "free folk"-Underground entstehen, im selben Atemzug wie solche mit eindeutiger Dance-orientiertem / elektronischem Hintergrund, nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeiten, diese Distinktionen aufrecht zu erhalten. Dass das Wiener Label Editions Mego, einst besonders für seine einflussreichen Laptop-basierten Veröffentlichungen von Künstler_innen wie Fennesz oder Pita bekannt, nun (auch) Alben von Synthesizer-orientierten Künstler_innen mit Drone- / Noise-Hintergrund wie Emeralds und Oneohtrix Point Never oder solche des Akustikgitarristen Bill Orcutt (einst in Harry Pussy) veröffentlicht, ist ein vielsagendes Beispiel. Einst (vermeintlich) separate trans-lokale und virtuelle Szenen sind immer weniger trennbar, und die Ausbreitung von Nischen und Mikrogenres impliziert nicht unbedingt künstlerisch-soziale Trennlinien. NNF ist hier nicht allein, hat sich aber - durch seinen unaufhörlich produktiven Output - einen eigenen Namen, ein eigenes Profil geschaffen. Boomkat, FACT, Altered Zones und The Wire haben alle bereits NNF-Features und / oder -Mixe präsentiert, letzteres Magazin hat dem Label gar eine von Simon Reynolds geschriebene Titelstory gewidmet. Das Label hat zudem mit 100% Silk einen stärker dance-orientierten Ableger geschaffen. NNF hört nicht auf, sich international auszubreiten: ein interessantes und in diesem Kontext besonders offensichtliches Beispiel ist der in Wien lebende "neo-rave laser-rider" (so die passende Labelbeschreibung) Stefan Kushima (Cruise Family). Einige Künstler_innen mit NNF-Bezug sind zudem ausgesprochen erfolgreich: das ehemalige Pocahaunted-Mitglied Bethany Cosentino ist mit seiner Band Best Coast wohl der bekannteste hier zu nennende Name; Sun Araw hat sein aktuelles Album in Zusammenarbeit mit Drag City (Bonnie "Prince" Bully, Joanna Newsom) veröffentlicht; und eine weitere Freundin des Labels, Zola Jesus, war neulich einer der Hauptacts des Waves Vienna-Festivals.

Zola Jesus ist eine von mehreren Künstler_innen, die mit Amanda Browns Projekt LA Vampires gearbeitet haben, und steuerte auch einen Song zur Compilation My Estrogeneration bei. Diese LP war weiblichen Künstlerinnen gewidmet, die auch einen guten Teil des NNF-Katalogs ausmachen - eine Tendenz, die die Browns aktiv fördern. In der rezenten Wire-Titelstory merkt Amanda Brown zu ihrer eigenen Praxis als LA Vampires an, sie frage sich täglich: "How can I be more like Björk?" Ihre eigenen pluralistischen Pop-Welten werden unter anderem von Labelkolleg_innen wie Matrix Metals, Ital oder Maria Minerva unterstützt. Minervas Auftritt beim diesjährigen Elevate ist, neben jenen High Wolfs und Dylan Ettingers, einer von drei mit NNF-Bezug. Sie selber ist eine nun in Großbritannien und bald in Portugal lebende estnische Künstlerin, ihre Musik ein aufregendes Konglomerat aus untergrabenen, dezidiert DIY-basierten, synthetischen Pop-Modi und den Sampling-Exkursionen einer Digital Native. Während Minervas Aufnahmen zu den am stärksten songbasierten des Labels gehören, heult der französische Künstler High Wolf Drones, die weder alt noch neu, weder organisch noch synthetisch, aber besonders farbenfrohe Manifestationen eines klassischen und doch persönlichen psychedelischen Sounds sind. Ihr könnt Euch dazu Pyramiden und Jaguare vorstellen, aber nur, wenn Ihr wirklich wollt - es sind genügend andere potenzielle Bilder vorhanden.

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Dylan Ettinger ist unter diesen drei der einzige, der auch in den USA lebt - in Bloomington, Indiana - und seine schwer fassbaren Ambient- / Drone- / Jazz- / Psych-Genrehybride "muddle the timeline", um es mit Boomkat zu sagen. Mit dieser Phrase scheinen sich gewisse Aspekte der im NNF-Katalog gefundenen Ästhetik(en) betonen zu lassen: viele verschiedene musikalische Modi und Strategien sind zugänglich und werden auch eingesetzt, aber diese Musiken haben stets etwas ungreifbares, nicht reduzierbares. In seiner rezenten Wire-Rezension (332 / Oktober 2011) von Sun Araws Ancient Romans schreibt Nick Southgate von diesem (demnach vom "concept of the concept album" inspirierten) Album bzw. dem Künstler, er kreiere "the idea of a musical career". Southgate betont die "strategy of becoming an eclectic sound factory [that] has been adopted by labels like Not Not Fun". Vielleicht sind NNF und seine Künstler_innen "minder" oder "klein" (mineur) im Deleuzianischen Sinne: nicht von geringerer Qualität, aber nicht durch statische Genrebezeichnungen und auf "große" Kategorien reduzierbar (vgl. auch Branden W. Josephs Arbeit über Tony Conrad, von Mike Kelley beeinflusst). Stattdessen tendieren sie dazu, ihre Kategorisierung zu untergraben und verhalten sich parasitär zu etablierten (und oft gleichzeitig vermeintlich uncoolen, lange vernachlässigten) musikalischen Strategien. Dies manifestiert sich als ausgesprochen einladendes, großzügiges und freundliches Feld ästhetischer Alternativen und Optionen, dessen Produktion und soziale Beziehungen als komplex in all ihrer Alltäglichkeit verstanden werden müssen und das freudig (und täglich) der Nutzung vorhandener künstlerischer Potenziale frönt.


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Maximilian Spiegel studiert Geschichte und Politikwissenschaft in Wien und arbeitet derzeit an seiner Diplomarbeit für letzteres Fach, "Gender construction and American 'Free Folk' music(s)".

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